Wenn Krankheit „nützlich“ wird: Sekundärer Krankheitsgewinn bei Frauen und Männern im Ruhestand

Ein Blick auf ein stilles Phänomen

Krankheit ist in erster Linie eine Belastung – körperlich, emotional und sozial. Doch manchmal erfüllt sie unbewusst auch andere Funktionen. In der Psychosomatik spricht man dann vom sekundären Krankheitsgewinn. Dieses Konzept beschreibt die unbewussten Vorteile, die Menschen aus einer Krankheit ziehen. 

Was ist sekundärer Krankheitsgewinn?

Im Gegensatz zum primären Krankheitsgewinn, bei dem Beschwerden innere Konflikte lindern (z. B. Stress oder Schuld), steht beim sekundären Krankheitsgewinn der äußere Nutzen im Vordergrund: mehr Aufmerksamkeit, Entlastung von Verantwortung oder emotionale Nähe durch Pflege.

Das Entscheidende: Diese Vorteile sind nicht bewusst gesteuert. Es geht nicht darum, Krankheit zu „spielen“, sondern um unbewusste psychodynamische Prozesse, die dazu führen können, dass körperliche Symptome aufrechterhalten oder sogar verstärkt werden.

Der Eintritt in den Ruhestand bedeutet für viele einen tiefgreifenden Einschnitt:

  • Verlust von Aufgaben und Rollen

Wer sich jahrzehntelang über Beruf, Familie oder Pflegeaufgaben definiert hat, erlebt oft ein Gefühl der Leere. Krankheit kann – unbewusst – eine neue „Aufgabe“ bieten.

  • Soziale Isolation

Der Kontakt zu Kolleg*innen oder sozialen Netzwerken nimmt ab. Eine chronische Erkrankung kann Nähe erzeugen: durch Gespräche mit Ärzten, Fürsorge durch Partner oder Kinder.

  • Selbstwert und Identität

In einer Leistungsgesellschaft kann der Wert einer Person stark über ihre Nützlichkeit definiert sein. Krankheit kann als Rechtfertigung dienen, nichts mehr „leisten“ zu müssen – ohne Schuldgefühle.

  • Zuwendung durch Angehörige

Besonders in Familien, in denen emotionale Nähe nicht offen gezeigt wird, kann Krankheit ein Weg sein, Aufmerksamkeit oder Zuwendung zu bekommen, ohne sie direkt einfordern zu müssen.

Frauen versus Männer: Geschlechtsspezifische Unterschiede im Ruhestand

Der sekundäre Krankheitsgewinn zeigt sich zwar bei beiden Geschlechtern, doch es gibt geschlechtsspezifische Tendenzen:

Frauen im Ruhestand:

  • Haben oft eine lange Phase von Sorgearbeit hinter sich (Kindererziehung, Pflege von Angehörigen).
  • Definieren sich häufig über Beziehungen und Fürsorge – fällt das weg, kann Krankheit eine neue Möglichkeit bieten, gebraucht zu werden oder Fürsorge zu erhalten.
  • Sind tendenziell offener, über gesundheitliche Beschwerden zu sprechen – was die Wahrnehmung und Thematisierung psychosomatischer Symptome erhöht.

Männer im Ruhestand:

  • Definieren sich häufiger über Beruf, Status und Leistung.
  • Krankheit kann (unbewusst) als Entschuldigung für das Gefühl des „Nicht-Mehr-Gebrauchtwerdens“ dienen – ohne das eigene Versagen thematisieren zu müssen.
  • Zeigen eher psychosomatische Symptome in Form von Reizbarkeit, Rückzug, Depression oder Alkoholmissbrauch – seltener werden sie offen als Krankheit anerkannt.

Beispielhafte Dynamik:

Ein Mann klagt über chronische Rückenschmerzen, sobald seine Frau mehr Aktivitäten ohne ihn unternimmt – unbewusst wirkt das Symptom wie ein „emotionales Halteband“. Eine Frau wiederum fühlt sich zunehmend schwach, sobald sich die Familie emotional von ihr entfernt – das Symptom zieht Nähe zurück in ihr Leben.

Wie damit umgehen?

  1. Verständnis statt Vorwurf

Der sekundäre Krankheitsgewinn ist kein „Vortäuschen“. Er ist ein psychischer Schutzmechanismus. Verständnis und Empathie helfen mehr als Vorwürfe.

  1. Systemische Sichtweise

Auch das soziale Umfeld spielt eine Rolle. Wie reagieren Angehörige auf Krankheit? Gibt es andere Wege, Aufmerksamkeit oder Nähe zu zeigen?

  1. Psychotherapeutische Unterstützung

Gerade wenn Beschwerden chronisch oder nicht erklärbar sind, kann eine psychotherapeutische Begleitung helfen, unbewusste Konflikte aufzudecken.

  1. Neue Rollen entwickeln

Ein erfüllter Ruhestand braucht neue Aufgaben. Ehrenamt, Hobbys, Reisen oder Bildung können helfen, das Bedürfnis nach Sinn und Zugehörigkeit zu erfüllen – ohne Umweg über Krankheit.

Fazit

Der sekundäre Krankheitsgewinn ist ein komplexes, meist unbewusstes Phänomen. Besonders im Ruhestand, wenn Rollen, Aufgaben und Beziehungen sich verändern, können psychische Bedürfnisse über körperliche Beschwerden Ausdruck finden. Während Frauen häufiger über emotionale und körperliche Nähe ihren Krankheitsgewinn erleben, nutzen Männer Krankheit oft als „erlaubten Rückzug“ aus einem als defizitär erlebten Alltag. Das Erkennen dieser Mechanismen ist ein erster Schritt, um neue, gesündere Formen von Anerkennung, Nähe und Sinn im Alter zu entwickeln.

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